Dr. Todor Mitrović: Vorwort zu „Demetrius – Begegnung mit dem Heiligen“

Dass die mittelalterliche Kunst die Spiritualität der orthodoxen Kirche am überzeugendsten repräsentiert, wird heute fast niemand bestreiten – zumal neo-byzantinische Ikonen immer häufiger in den Tempeln der verschiedenen christlichen Konfessionen zu finden sind.
Allerdings provoziert die Wiederbelebung dieses Stils in der kirchlichen Malerei ständig eine Reihe sehr heikler Fragen. Auf welche Überlieferung des mittelalterlichen Erbes soll man sich beziehen und in welcher Weise?
Welche Malweise kann diesen ikonographischen Reichtum in angemessener Weise in das heutige kirchliche Leben einbringen? Trotz der aktuellen Überproduktion von Ikonen – oder gerade deswegen – scheint es so, dass zeitgenössische Ikonenmaler kontinuierlich versuchen, diese Fragen auszublenden, und beharrlich vermeiden sie zu beantworten. Nikola Sarić jedoch gehört zu der kleinen Zahl von Künstlern, die keine Angst vor dieser Aufgabe haben.
In dem Versuch, kompromisslos und kühn die Fragen zu beantworten, die sich dem Kirchenmaler aus seinem historischen Kontext stellen, nimmt uns der Künstler auf eine Reise von der Vergangenheit in die Zukunft. Er spricht dabei eine künstlerische Sprache, über die wirklich gesagt werden kann, dass sie in der Lage ist, unvereinbar scheinende Welten zu vereinen.
Bei der Wiederbelebung des „byzantinischen Stils“ in der Kirchenmalerei, die sich durch das gesamte zwanzigste Jahrhundert zog, wurde davon ausgegangen, dass die letzte Phase der mittelalterlichen Kunst die einzige logische formal-stilistische Richtlinie darstellt, auf der die ästhetische Gestaltung der zeitgenössischer Ikonen fußen sollte. Nikola Sarić stufen wir in die Gruppe der Maler ein, die ebendas hinterfragen möchten. Im Kontext der aktuellen Kunsttrends ist die Idee der simplen ästhetischen Anknüpfung an einen einzigen historischen Punkt einfach nicht mehr haltbar.
In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts erneuerte sich in der serbischen und der russischen Kirchenmalerei das Interesse an stilistischen Lösungen, die archaischer und ausdrucksvoller sind als der antike, klassizistische Stil, der als letzte Phase der Entwicklung der byzantinischen Kunst im Mittelalter verstanden wurde. Will man jedoch nicht mehr ausschließlich an diese mittelalterliche Tradition anknüpfen, so eröffnet sich neues Interesse an allen anderen Phasen der christlichen Kunstgeschichte – wie eine verwirrende konservativ-liberale Büchse der Pandora.
Es ist insofern nicht allzu erstaunlich, dass die historische und geographische Rückwärtsbewegung sich bis zu einem Punkt steigert, an dem sie diese ästhetische Erforschung – wie eine Art Schwungrad – zu stilistischen Koordinaten jenseits des byzantinischen und auch des christlichen Rahmens im weiteren Sinne katapultiert. Diese Koordinaten reichen zurück bis zu koptischer, armenischer, äthiopischer, frühchristlicher und spätrömischer, römischer, hellenistischer und sogar auch altägyptischer und mesopotamischer Kunst.
Eintauchend in die Vergangenheit tritt die jüngste Generation von Ikonenmalern – geplant oder zufällig – ein in eine Art künstlerischen Dialog mit nichtkirchlichen Kultur – christlicher
und nichtchristlicher.
Selbstverständlich nimmt die Verwendung von historischen Kunststilen hier eine sehr spezifische – und überraschend kreative – ästhetische Dimension an.
Die verwendete Methode ist ganz modern, genauer gesagt sogar postmodern, in ihrem Kampf gegen das engstirnige ideologische Bewusstsein, diesmal in der Kirche. Kirchenmalerei mit kühner und kompromissloser Attitüde, die aus archaischen Kunststilen ihre Inspiration nimmt, kann sich nicht mehr ruhig im „historischen Reservat“ halten und dabei so tun, als ob man perfekt spontan an das (paläologische) mittelalterliche künstlerische Erbe anknüpft könnte, stattdessen aber unter Nutzung moderner Kommunikationsmittel ins jüngst geöffnete Universum der Kulturgeschichte greifen, um jene Früchte zu ernten, die sich ihr ästhetisch und theologisch anbieten. Die mittelalterlichen Meister hätten wahrscheinlich das Gleiche getan, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätten.
Obwohl Nikola Sarić, wie Sie sehen, nicht völlig allein ist in diese Forschungen, bringt er sicherlich die mutigsten und innovativsten Lösungen dieser Art. Das Konglomerat der Stilzitate ist in seiner Arbeit nicht in eine monotone Collage verwandelt, die nur etwas über des Malers Gelehrsamkeit aussagt oder über das Bedürfnis, den Betrachter zu überraschen. Vielmehr ist sie eine hochkonzeptionelle Erzählung und stellt ein ungewöhnlich intensives Erlebnis dar, weil sie die Formen alle Kunststilquellen zu einem verwirrenden und blendenden ästhetischen Ganzen zusammen fügt.
Die Art und Weise, wie Sarić extrem divergierende Elemente der Malerei zu einer abgerundeten künstlerischen Idee vereint, wird sich uns freilich nie ganz erschließen, denn hinter seinen Projekten steckt dieses kognitive Übermaß, das originären Schöpfungen innewohnt.
Dank dieses Übermaßes spricht Nikola Sarić‘ Darstellung zu uns mit emotionaler Unmittelbarkeit und intellektueller Bedachtsamkeit, die einander perfekt ergänzen. Jede Komposition, jede Figur, jedes Porträt und sogar jeder Pinselstrich strahlen diese spannende unmittelbar-intellektuelle Dynamik aus, die unversöhnliche Widersprüche und entfernte Welten vereint.
Authentische christliche Kunst spricht nach so vielen Jahrhunderten wieder zu uns mit überraschender Kraft und Aktualität.
Einen der wichtigsten Faktoren, die wiederum dieser Kunst einen urchristlichen Charakter geben, stellen natürlich ihre Protagonisten dar. Doch die Art, wie die Gestaltung der Portraits auf eine besonders dynamische kommunikative Ebene gehoben wird, besiegelt letztendlich, dass diese Gemälde als eine äußerst authentische künstlerische Inkarnation der Botschaft des Evangeliums anerkannt werden können.
Sarić‘ Charaktere mit großen, weit geöffneten Augen verweisen auf die Porträts der frühen byzantinischen Kunst – wie etwa in den Mosaiken in Ravenna oder in der Kirche des Heiligen Demetrius von Thessaloniki – aber vermitteln uns auch eine neue Art von Gefühl: Ein wenig verwirrt, überrascht, fast ungewöhnt an die Anwesenheit eines Beobachters, der sie sorgfältig betrachtet, scheinen diese Menschen (und Engel) zu sein, sind sie doch noch sehr mit den Unterscheidungen von öffentlichem und privatem Bereich vertraut.
Trotz der steten, entschlossenen und unveränderlichen körperlichen Haltungen, aus hieratischster historischer figurativer Tradition übernommen, kann aufgrund ihrer Gesichtsausdrücke der Eindruck entstehen, dass sie sich ein bisschen unbequem fühlen in Anbetracht dessen, dass ihr Glaube der ganzen Welt so öffentlich zur Schau gestellt wird. Es ist auf den ersten Blick klar, dass dieser zeitgenössische Heilige Demetrius, wie auch der, der vor 14 Jahrhunderten in der berühmten Basilika von Thessaloniki dargestellt wurde, nicht zögern würde, für Christus zu leiden. Aber er scheint sich auch bewusst zu sein, dass die Darstellung seiner Person und seiner Taten benutzt werden kann um eine Hierarchie zu errichten, die ihm ursprünglich nicht entspricht.
Das mittelalterliche Ideal des Menschen – in einer Welt, die auf klar definierten hierarchischen Strukturen basierte – konnte nicht einmal wagen, diese Art von Gefühl zu zeigen, aber das moderne, postmoderne kann sie nicht nicht zeigen.
Der zeitgenössische Heilige kann kein authentischer Zeuge des Glaubens sein, wenn mit ihm irgendeine Art von hierarchischem Druck verbunden ist, gerade weil das Evangelium moderne Christen lehrt, kein Vertrauen zu Strukturen aufzubauen, die auf Macht und Zwang basieren.
Daher fühlt sich Sarić‘ Heiliger Demetrius ein bisschen unwohl in den hieratischen Posen, die durch die geniale künstlerische Intervention in eine Starre gebracht sind.

Das gesamte Spiel mit hieratische Stilen in der Geschichte der Kunst bekommt unter solchem Licht besonders inspirierende semantische Ebenen.

Die auf diese Weise ironisch dekonstruierte Logik der Naturreligionen, die auf primitiven sozialen und religiösen Machtstrukturen basieren, die wir – wir sollten uns nicht beirren lassen – bis auf diesen Tag nicht befrieden und christianisieren konnten, verliert seine Grundlage: Angst. Im Gegensatz zu Bildnissen ägyptischer Pharaonen bereitet dieser neue ästhetische (Pseudo-)Hieratismus seinen Zuschauer keine Angst mehr.
Überdies ist dank Nikola Sarić‘ stilistischen Erfindungen und seinem erstaunlichen expressiven Momentum seinen Ikonen jede Intention fern, die aus einer Position der Angst oder Macht erwachsen könnte.
Das Einzige, wovor sein Heiliger Demetrius Angst haben könnte, ist, dass seine Position auf die Betrachter machtvoll und nötigend wirken könnte. Obwohl die mittelalterliche Kunst auch eine solche Botschaft anstrebte, hatte sie nicht ausreichend ästhetische Elemente verfügbar, um sie auszudrücken.
Wie man an den Werken von Nikola Sarić sieht, hat moderne Kirchenmalerei diese Elemente in die Hand genommen und in dem Bestreben der Wiederbelebung der Botschaft des Evangeliums begonnen, ihre eigenen Ausdrucksmöglichkeiten in einer ganz authentischen Art und Weise zu verwirklichen.

Auszug aus „Akathistos an den Heiligen Demetrius in Bildern von Nikola Sarić“, Hannover 2014, ISBN 978-3-00-046990-9

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